"Von Amerika wird einiges verschwinden"
Parag Khanna war Berater von Barack Obama - Der Politikwissenschaftler spricht im Interview über den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens und eine neue Welle der Migration
Herr Khanna, was hat Asien in der Pandemie besser gemacht als Europa oder die USA? Sie haben ja in Ihrem letzten Buch prophezeit, dass die Zukunft Asien gehört.
Aus den Erfahrungen der Pandemie muss man sagen, dass nicht die Zukunft, sondern schon die Gegenwart asiatisch ist. Der entscheidende Faktor liegt in der technokratischen Lösung des Problems. Auch wenn es wie Alchemie erscheint, eine allgemeine Lösung für die Probleme der Pandemie zu finden. Ich glaube, ohne die Erfahrungen mit der Sars-Epidemie von 2003 kann man vielleicht nicht auf solch eine Krise richtig reagieren. Die Menschen in den asiatischen Staaten wussten von Anfang an, dass man die Pandemie sehr ernst nehmen muss. Länder wie Südkorea oder Taiwan benötigten daher keine autoritären Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen. In Europa war das so nicht zu erkennen. Und es gab noch einen weiteren wichtigen Faktor.
Welcher wäre das?
Die Menschen in den asiatischen Ländern vertrauten der Wissenschaft und der Expertise der Regierungen. Die Pandemie schlug genau in einer Zeit zu, in der im Westen das Vertrauen in die Regierungen auf einem Tiefpunkt angekommen war. Für eine Herausforderung wie der einer Pandemie war es der denkbar ungünstigste Zeitpunkt. Der Vertrauenszuwachs in die demokratischen Regierungen in Asien war sicher ein wichtiger Faktor, gut durch diese Krise zu kommen.
Wird sich der Aufstieg Asiens beschleunigen, auch weil die Länder schneller aus der Pandemie herauskommen als der Rest der Welt?
Das ist sicher einer der Gründe. Langfristig könnte es sich als ein beschleunigender Faktor erweisen. Die Welt veränderte sich jedoch bereits vor der Coronakrise. Jetzt geht es umso schneller. Wir werden in den kommenden Jahren beobachten, wie sich die ökonomischen Bedingungen zwischen Asien und dem Rest noch deutlicher auseinander entwickeln werden. Asiatische Staaten werden im Vergleich zu anderen Regionen noch schneller wachsen. Politisch und ideologisch war es vor der Pandemie sehr schwierig, die Leute von den Argumenten meines Buches über den Aufstieg Asiens zu überzeugen, besonders, dass die asiatischen Demokratien die beste Regierungsform darstellen. Jetzt versteht es sich von selbst. Die ganze Welt hat es live erfahren, wie alle Staaten zur gleichen Zeit mit ein und derselben Krise umgehen. Und es hat sich objektiv gezeigt, dass das asiatische Modell den anderen überlegen ist.
Viele gehen nun von einer Zunahme der De-Globalisierung aus. Sie betonen jedoch in Ihrem neuen Buch „Move", dass die Globalisierung sogar noch an Schwung gewinnen wird.
Diejenigen, die von der De-Globalisierung reden, sind für mich kein Maßstab für die Beurteilung der Zukunft. Sie liegen schlichtweg falsch. Alle zwei Jahre kommt diese Diskussion auf, und die Verfechter der These der De-Globalisierung liegen stets daneben. Die Globalisierung als solche ist nicht in Gefahr. Finanzmärkte, Migration, Digitalisierung, Handel zeigen einen Zuwachs an Globalisierung. Viele, die von ihrem Ende reden, beziehen sich nur auf einen der genannten Faktoren und blasen den dann entsprechend auf. Die Globalisierung ist mittlerweile viel breiter und umfangreicher als jede Statistik.
Mit der Globalisierung wächst auch die Migration. Nach Zahlen des Roten Kreuzes und der Roter-Halbmond-Bewegung haben in den letzten sechs Monaten 10,6 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Ist das die Zukunft, die auf uns wartet?
Es ist bereits Gegenwart. Schon jetzt haben 50 bis 100 Millionen Menschen wegen des Klimawandels ihre Heimat verlassen. Die humanitären Organisationen haben bereits vor sechs Jahren festgestellt, dass die Zahl der Klimaflüchtlinge die der politischen Flüchtlinge übertroffen hat. Die Migration hat aber mehrere Ursachen. Schon jetzt verlassen die Menschen afrikanische Staaten wie Kenia oder Tansania wegen der Dürren und Missernten. Die Zahl wird noch einmal deutlich wachsen.
Als einer der großen Favoriten für ein gutes Leben gilt in Ihrem Buch Kanada. Dafür muss man die Migration aber steuern können. Sind Sie da optimistisch?
Insgesamt ja. Kanada ist ein Ausnahmestaat auf der Welt, der so explizit viele Ausländer integriert, ohne dass es großen politischen Widerstand gibt. Das Land ist geografisch, politisch und wirtschaftlich hochinteressant. Es hat außerdem den Raum, um Millionen von Menschen aufzunehmen – und so könnte es seine jetzige Bevölkerungszahl absehbar verdreifachen. Auch bei den genannten Problemen, wie man sie nun in Toronto oder Vancouver vorfindet, wo sich die Weißen wegen der vielen Ausländer vom Schulsystem vertrieben fühlen, sehe ich keine Abweichung von der Strategie, die Bevölkerungszahl zu vervielfachen.
Ist also der globale Norden der große Gewinner des Klimawandels?
Ja und Nein. Es ist immer noch eine Herausforderung, im hohen Norden zu leben, allein schon wegen der Lichtverhältnisse durch die lange Dunkelheit im Winter. In den Regionen leben zurzeit nur sieben oder acht Millionen Menschen. Das könnte sich durch das neue Nomadentum ändern. Wir kennen alle den Strandurlaub von Mai bis Juni in Spanien, inzwischen ist es so heiß dort, dass die Handys sich wegen der Hitze von allein ausschalten. Im Sommer geht man besser nach Norwegen, im Winter nach Spanien. Aber so ein nomadisches Leben können nur zwei bis drei Milliarden Menschen führen.
Wie sieht das in Asien aus?
Dort wäre es vielleicht möglich, dass Inder und Chinesen zwei bis drei Monate im Jahr in Russland verbringen. Möglicherweise wird es auch friedlich vonstatten gehen. Russland braucht auch die Einwanderung. Es ist etwas einmaliges, hier trifft der bevölkerungsreichste Staat auf den größten Staat der Erde. Russland hat Öl und Wasser, Ressourcen, die China brauchen wird. Es gibt die Notwendigkeit eines Ressourcen-Austausches. Die Komplementarität ist groß, die Frage ist, wie es politisch geregelt ist.
Was erwarten Sie da?
Vor zehn Jahren war es ein heikles Thema. Heute gehen die Russen selbstbewusster damit um. Sie wollen noch nicht zu viele Chinesen sich ansiedeln zu lassen. Sie sollten auch Inder mit einladen, als eine Art Eindämmungskraft gegen chinesische Ansprüche.
Also Inder reinlassen, um China einzudämmen?
Inder haben gute Fähigkeit, auf die die Russen zurückgreifen sollten. Es wird im Osten Russlands multikultureller werden. Migration ist nur ein Maßstab, nach dem wir die Frage der humanen Biografie neu schreiben. Es gab 2020 kaum Migration aufgrund des Lockdowns, das ist aber kein natürlicher Zustand. Alles wird nach dem Lockdown anders aussehen. Die Bewegungen sind da, wir sehen es nur nicht in den Nachrichten der westlichen Sender, wie viele Chinesen schon heute in Russland leben. Erst in zehn Jahren werden wir sehen, wie groß die Migration dann ist.
Die Chinesen werden im Durchschnitt immer älter. Wird es trotz der immensen Bevölkerungszahl auf Einwanderung setzen?
Das ist schon jetzt eine große Herausforderung für China. Es muss mehr Einwanderer aufnehmen, auch wenn es paradox klingt. Es geht um die Altersverhältnisse, es gibt viel zu viele Alte und zu wenig Junge wegen der lange praktizierten Ein-Kind-Politik. Es ist zudem sehr teuer, mehr Kinder zu haben. Auch wenn man jetzt zwei haben könnte, machen das viele aber nicht. Auch China sieht sich nach Einwanderern um. Schon heute gibt es ein Tauziehen um philippinische Krankenschwestern. In Manila sieht man nicht nur chinesische, sondern auch deutsche Werbeplakate. Dabeiwissen die Deutschen vermutlich gar nicht, dass ihre Bundesregierung dabei ist, heftig um asiatische Einwanderer zu werben. Jetzt gilt für Deutschland doch das Motto: Inder statt Kinder, die Geburtenzahlen sind einfach zu niedrig.
Der Diskurs der Einwanderung dreht sich hierzulande vor allem um Araber und Afrikaner.
Ja, aber inzwischen entdeckt Deutschland, dass anpassungsfähige Menschen mit guter Ausbildung in Asien zu finden sind. Sie haben Informatik studiert, sprechen Englisch, und sie ziehen in immer größeren Zahlen nach Europa. In den USA leben derzeit 20 Millionen Asiaten, in Europa vier Millionen. Es wird einer der großen Trends sein, dass künftig mehr Asiaten in Europa als in den USA leben werden. Viele von ihnen müssen sich heute entscheiden, wohin sie mit ihrer guten Ausbildung und ihren Fähigkeiten gehen sollen. Europa besitzt da eine hohe Attraktivität.
Wo würden Sie am liebsten leben?
In Michigan. Im 50. bis 60. Breitengrad werden die klimatischen Bedingungen sicher die günstigsten sein. Aber es gibt auch politische Faktoren, den Zugang zu Wasser, die industrielle Basis in der Region. Sie alle tragen zur Bewohnbarkeit bei. Es gibt nicht den einen Faktor. Aber: Ist der eine Ort perfekt, wird er sogleich überlaufen. Wir sehen das doch jetzt schon in Toronto. Die Stadt liegt wahnsinnig gut, direkt an den großen Seen Nordamerikas. Sie nimmt jede Menge Migranten auf. Wegen der wachsenden Kriminalität und Gewalt meckern jetzt die Stadtbewohner, die Mieten sind zu hoch, viele ziehen weg. Die Stadt ist zu cool geworden, das gleiche gilt für Berlin.
Wie sieht die Zukunft des globalen Südens aus?
Während der Norden von Kanada bis Russland durch ein grünes Band bewohnbar sein wird, gilt für den globalen Süden das Gegenteil. Er könnte größtenteils unbewohnbar sein. Für die 1,5 Milliarden Einwohner des echten Südens in Südamerika und Afrika waren die Bedingungen schon vor Covid schlecht. Es gab die Trockenzeit, die Preise für Rohstoffe befanden sich bereits im Fall. Vor Corona war ich nicht optimistisch und bin es jetzt noch weniger. Ich traue Afrika hier mehr zu als Südamerika, wo es bereits ein starkes Gewaltniveau gibt. Insgesamt habe ich wenig Zuversicht.
Blicken wir in das Jahr 2050. Die Migrationsbewegung findet Richtung Asien statt, schreiben Sie. Wie sehen Sie die Zukunft der USA und Europas?
Ich beziehe mich lieber auf Nordamerika und Europa im Ganzen. Ich weiß nicht, ob es Deutschland so wie heute geben wird, Bulgarien wird ohne Menschen sein. In Kasachstan werden 80 Millionen Menschen leben, nur 20 Millionen davon Kasachen. Nordamerika wird eine gute Zukunft haben, einige Teile der USA werden jedoch unbewohnbar sein, weil es eine große Trockenheit geben wird. Zudem wird Miami wegen des steigenden Meeresspiegels versunken sein, New York vielleicht auch. Aber ansonsten hat man das Potenzial für die Zukunft, was am Zugang zu Wasser, der Einwohnerzahl und dem politischen System liegt. Ich mache mir keine allzu großen Sorgen über die Zukunftsfähigkeit von Nordamerika, Europa oder Nordostasien. Welches Hindernis uns für eine gute Zukunft im Wege steht, sind die Grenzen. Ich habe nichts gegen sie. Aber man muss sie an die Wirklichkeit anpassen.
Interview: Michael Hesse