Christopher Clark über Vergleich zu 1914 +++ Soziologe Andreas Reckwitz über das Misstrauen ins System +++ Francis Fukuyama über Trumps Anhänger

"Wir sollten gelassener sein"

Der Historiker Volker Reinhardt über die Folgen der Pest für die Gesellschaft und Wirtschaft des Mittelalters und Vergleiche zur heutigen Pandemie

Professor Reinhardt, wurde die Menschheit im Jahr 1348 ähnlich überraschend von der Pest überfallen wie die Welt heute von der Pandemie?


Ich würde sagen, sogar noch sehr viel mehr. Wir leben immerhin in einer Zeit der nach Schweinegrippe, Vogelgrippe und dem Sars-Ausbruch. Ein diffuses Gefühl der Bedrohung war immer da.  In den Jahren 1347/48/49 rechnete niemand mit so einem Ausbruch. Eine Seuche dieses Ausmaßes lag zeitlich soweit zurück, dass auch das kollektive Gedächtnis es nicht mehr erfasste. Es hat im 6. Jahrhundert n.Chr., der sogenannten Spätantike, wohl eine ähnliche Pestepidemie gegeben, danach nichts wirklich Vergleichbares mehr. Insofern kam dieses plötzliche Massensterben völlig unerwartet. Die Schockwirkung muss einzigartig gewesen sein.


Wo bricht die Pest aus?


Die Schiffe kommen von der Krim Anfang Oktober in Messina an. Die Besatzung geht an Land und schon beginnt schlagartig das Sterben. Diese Schiffe fahren weiter, man verzichtet darauf, sie zu isolieren. Sie fahren die tyrrhenische Küste hoch und sind Anfang November in Marseille. Dann bricht die Pest in Frankreich aus.


Die Pandemie des 14. Jahrhunderts greift ähnlich schnell wie die im 21. Jahrhundert um sich?


Es gibt bereits effiziente Schifffahrtsrouten und es gibt Nachrichtenwege, die nicht so schnell sind wie heute, aber ein Eilkurier konnte die Distanz von Süditalien nach Norditalien in  vier, fünf Tagen schaffen. Es ging auch in  drei oder vier Tagen, wenn er seine Pferde zu Tode ritt. Das war eines der großen Rätsel: Es muss sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben, was da in Sizilien geschah. Dazu war das zu neu und zu schrecklich. Dennoch wurden kaum Maßnahmen unternommen.



Wie ging es weiter?


Die Pest gelangte nach Mittelitalien und auch Norditalien. Nur an einer einzigen Stelle, in Mailand, hat man reagiert und Vorsorge getroffen, nämlich die Stadt mit Vorräten ausgestattet und komplett isoliert. Das Wunder von Mailand geschieht in einer Stadt von ungefähr 150.000 Einwohnern. Die Stadt bleibt pestfrei.


Warum ausgerechnet in Mailand?


Die Erklärung dafür ist eine soziale und ökonomische. In den übrigen Städten regieren Kaufmannsoligarchien, reiche Familien mit weit gespannten finanziellen Interessen, vor allem in Venedig, wo der Großhandel den sagenhaften Reichtum dieser Stadt hervorgebracht hat. Und diese Leute haben kein Interesse daran, die Handelsbeziehungen zu unterbrechen. Dass das ein schwerer Fehler war, merkt man erst zu spät.


Die Maßnahmen, die Mailand ergriff, ähneln auch den heutigen. Sie zeigen ja ein aktives Handeln auf und nicht Ergebenheit in das Schicksal.


Es gab einen eklatanten Unterschied. Die sogenannten Experten der damaligen Zeit, Mediziner, Astrologen, Theologen sagen, es sei eine Gottesstrafe, vergiftete Luft kommt durch eine ungünstige Konjunktion der Planeten auf die Erde, dahinter steht der strafende Gott. Wenn man die Erklärung so pauschal akzeptiert, konnte man ja gar nichts machen. Man konnte Gott walten lassen, auf Gott vertrauen, man konnte höchstens Gott um Verzeihung und Gnade bitten. Das Handeln in Mailand ist anders ausgerichtet, hier geht man davon aus, dass man etwas machen kann und widerlegt im Grunde auch die Theorie der vergifteten Luft. Denn die müsste ja eigentlich überall sein. Es gibt ähnliche Beispiele. Der damalige Papst reagiert auch richtig, er lässt einfach niemanden mehr  zur Audienz zu, er isoliert sich und schützt sich auf diese Weise. Die jungen Damen und Herren von Boccaccios Dekamerone machen es ähnlich. Sie begeben sich aufs Land in ihre Villa, lassen sich von ausgewählten Personen bedienen und sehen sonst niemanden. Der gesunde Menschen verstand war weiter als die Theorie der Medizin.


Wie veränderte sich das gesellschaftliche Leben? Gab es Unruhen und Aufstände? Löste sich die öffentliche Ordnung auf?


Es ist auf jeden Fall ein schwerer Schlag für das soziale Gefüge gewesen. Vieles wird auf die Probe gestellt. Die öffentliche Ordnung bricht jedoch nicht zusammen, hier bin ich anderer Meinung als die ältere Forschung. Es wird weiter gewählt, die Ämter werden weiter besetzt. Auch Kunstaufträge laufen weiter. Der Mensch ist ein relativ robustes Lebewesen. Der in der Forschungsliteratur vielzitierte Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung hat nachweislich nicht stattgefunden.


Wie groß waren die Verluste?


Mittelwerte liegen zwischen 25 bis 30 Prozent der Menschen, die dem Erreger zum Opfer fielen.  Auch in China, wo das Bakterium herstammte soll es Schätzungen zufolge viele Millionen Tote gegeben haben. In Europa gab es an manchen Orten gewiss eine Todesrate von bis zu 75 Prozent der Menschen. Ganze Klostergemeinschaften starben aus. Die Menschen lebten dort auf engen Raum zusammen, die Infektion hatte bessere Ausbreitungschancen. Getroffen wurden vor allem die Unterschichten, die Armen lebten eng zusammen.


Und auf dem Gebiet des heutigen Deutschland?


In Deutschland gab es relativ niedrige Sterberaten, 10 bis 15 Prozent schätzt man. Es gibt aber fraglos auch Städte, wo die Mehrheit der Bevölkerung ums Leben kommt.


Wie sieht der Unterschied zwischen Stadt und Land aus?


Die Stadt ist Hotspot. Es gibt aber Berichte, dass ganze Landstriche verödet sind, dass Bauernhöfe aufgegeben werden, Felder nicht mehr bearbeitet werden. Manche Gegenden waren regelrecht menschenleer. Potenziell ist die Todesrate in der Stadt höher, da die Wohnverhältnisse beengter sind.


Wir sehen heute, wie schnell vermeintliche Helden, zumeist Politiker, in der Gunst der Öffentlichkeit abstürzen. Welche Helden gab es damals?


Der Superheld in den Augen der Menschen ist der brutal agierende und rücksichtslos zugreifende Stattherr von Mailand. Das soll kein Lob des starken Mannes sein. Aber stellen Sie sich heute vor, dass eine Stadt oder ein Land coronafrei bleibt, wer dafür politisch verantwortlich ist, wird mit bis zu 90 Prozent wiedergewählt werden.


Wie stark wurde die Wirtschaft getroffen?


Das Wirtschaftsleben läuft weiter. Es gibt keine Berichte über Hungersnöte. Die hätten sofort eintreten müssen, da die Versorgungslage der Städte auch in normalen Jahren immer schwierig gewesen ist. Lebensmittel wurden jedoch teurer. Die Ökonomie hält letztlich stand. Das hängt auch damit zusammen, dass die Pest für kürzere Zeit wütet als Corona. Sie dauert in der Regel nicht länger als ein halbes Jahr.  Der Aderlass ist dennoch groß.


Mit welchen Folgen?


Gerade weil die kleinen Leute überproportional wegsterben, haben es die Überlebenden aus dieser Schicht besser, die Arbeitskraft wird knapp, dadurch steigen die Löhne einige Jahre. Das ist ein Mechanismus, den wir bei allen Epidemien bis zum 18. Jahrhundert beobachten können. Diejenigen, die nun Pachten übernehmen, können dies zu besseren Konditionen tun. Das ärgert die Grundbesitzer natürlich. Die Überlebenden profitieren also zweifach: Sie leben und kommen in den Genuss besserer Kaufkraftbedingungen.


Die Ungleichheit wird durch die Pest reduziert?


Ein bisschen jedenfalls. Der Effekt hält nicht allzu lange an. Er wiederholt sich jedoch, da die Pestepidemien wiederkommen. Es gibt noch einen weiteren Effekt.


Welchen?


Eine große Zahl alteingesessener Familien stirbt aus, neue rücken nach, entfernte Verwandte, manchmal ganz neue Familien. Für sie sieht es am Anfang sehr gut aus, aber nicht sehr lange. Diese Aufsteiger aus dem sozialen Nichts sind unbeliebt. Sie werden von der alten Elite relativ schnell zurückgedrängt. Diese Parvenüs haben nicht lange Konjunktur.


War die Pandemie eine Zeitenwende?


Nein. Die elementare Reaktion, die auch einige Jahre anhält, ist Rückwärtswendung, Nostalgie, Sehnsucht nach der verlorenen Normalität, Orientierung an scheinbar verbürgten alten Werten. Das ist eine normale Reaktion. Man wird konservativer. Das ist so wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Man hat ein Menschheitsgemetzel angezettelt und in den 1950er Jahren dreht man einen Heimatfilm nach dem anderen. Man will sich an einer vermeintlich besseren Vergangenheit orientieren.


Also kein Aufbruch von der Pestzeit in die Renaissance?


Einen direkten Link zwischen Pest und Renaissance gibt es nicht. Der Begriff der Renaissance ist ohnehin sehr problematisch geworden. Sie lässt sich dadurch definieren, dass sich die Kluft zwischen den oberen und unteren Schichten vergrößert, dass sich neue Medien entfalten, ein neuer Kunststil aufkommt. Das geschieht ja auch erst ein Menschenalter nach der Pest. Man kann darin am Ende eine gewisse Trotzreaktion sehen. Nachdem die Pest fünf, sechsmal zurückgekommen ist, das Elend sich weiter gesteigert hat, verkünden Literaten und Künstler ein positiveres Menschenbild, nach dem Elend jetzt die Würde des Menschen.


Ein weiterer Trend war in der Pest die Stadtflucht. Die Verstädterung nahm dennoch zu?


Wirklich neue Trends gibt es nicht. Die Geschichte nimmt mit einigen nicht unwesentlichen Veränderungen ihren Lauf. Den Humanismus als Kulturströmung gibt es vorher, die Verstädterung gibt es vorher, die wirtschaftliche Entwicklung geht weiter, wenn auch auf reduziertem Niveau. Die Geschichte wird weder aufgehalten, noch bekommt sie neue Züge. Es gibt Veränderungen, allein schon die Anzahl der Menschen nimmt ab. Das Modell, das sich in Mailand bewährt hat, setzt sich immer stärker durch. Auch in Florenz. Die Medici sind verschleierte Einzelherrscher. Sie regieren bis ins zweite Viertel des 16. Jahrhunderts hinter einer republikanischen Fassade. Die Trends zur Einzelherrschaft verstärken sich. Die führenden Schichten grenzen sich weiter von den Mittelschichten ab. Europa wird aristokratischer. Das ist nicht nur in Italien so. Ich bringe es auf die Formel: Die Pest verändert einiges, sie verstärkt Entwicklungen, aber sie bewirkt keine wirkliche Umkehr und keine entscheidenden Innovationen.


Nimmt die Härte der Verteilungskämpfe zu?


Ich habe gelesen, dass die Superreichen in der Corona-Pandemie noch reicher geworden sind. Das bestätigt sich auch nach der Pest. Der Einfluss der Führungsschichten verstärkt sich. Hoffnungen auf ein neues soziales Klima gibt es schon damals. Aber es tritt der gegenteilige Effekt ein. Man ist der Meinung, dass die Menschen eher noch böser geworden sind. Vorhersagen sind immer problematisch. Wenn sich Corona durch Impfen und wärmere Temperaturen 2021 erledigt haben sollte, wird das eine Episode bleiben. Es wird keine Wendezeit sein. Auch die Hoffnung auf einen besseren Menschen sollte man fahren lassen. Um Machiavelli  zu zitieren: Dankbarkeit gehört nicht zum menschlichen Wesen, sondern eher das Gegenteil.


Wäre eine Lehre aus der Zeit, gelassener in die Zukunft zu blicken?


Das wäre eine konkrete Lehre, die man aus dieser Zeit sicher ziehen kann. Gerade während der Seuche gab es zahlreiche Phobien, die Welt gehe zu Ende, Gott leite das Jüngste Gericht ein, man müsse sich auf das Weltenende vorbereiten. Die politisch Verantwortlichen können nicht tatenlos bleiben, weil sie sonst ihre Legitimität einbüßen. Sie müssen hektische Aktivitäten entfalten, die zum großen Teil sinnlos, manchmal kontraproduktiv sind. Etwa wenn man Bittprozessionen organisiert. Eigenständig Rückschlüsse ziehen, die Expertenmeinung ernstnehmen, breiter vergleichen, die Virologen und Epidemiologen sind ja keinesfalls in allen Punkten einig gewesen. Gerade in Zeiten der Krise ist Rationalität angesagt. Wie etwa bei Papst Clemens VI., der die Juden von dem perfiden Vorwurf freispricht, die Pest verbreitet zu haben und das glasklar auch beweisen kann. Das meint Gelassenheit. Die Dinge so rational wie möglich zu betrachten.



Interview: Michael Hesse





"Die Gegenwart erinnert mich an das Jahr 1914"

Christopher Clark über die Ähnlichkeit der heutigen Probleme mit denen aus vergangenen Zeiten

Herr Clark, wenn man an die Globalisierung und der mit ihr verbundenen wachsenden Ähnlichkeit, der sogenannten Konvergenz, zwischen den Ländern denkt: Ist das der Schrecken der Amerikaner und besonders der Trump-Wähler, dass wir uns alle ähnlicher werden?


Amerika hatte nie etwas gegen Konvergenz, denn das hieß, dass die Welt Amerika immer ähnlicher wird. Die Idee der „Shining City on the Hill“ war, dass sie das leuchtende Vorbild,  eine Art Heimat für die gesamte Menschheit sind. Trump ist der erste amerikanische Präsident der Geschichte, der auf die Rolle Amerikas als Vorbild verzichtet hat. Wenn er davon sprach, Amerika wieder groß zu machen, wollte er nichts von der Vorbildrolle wissen.


Dennoch hat Trump trotz seiner Niederlage viel Zuspruch gefunden.


Es ist bedauerlich, dass nun wieder 71 Millionen Wähler diesen Unsinn mit Trump weitere vier Jahre haben wollten. Eine Katastrophe. Ich habe noch keine erschöpfende Erklärung dafür gefunden. Die Menschen haben vielleicht das Gefühl, ohne das ich es teilen würde, dass ihnen ihr Land nicht mehr gehört, es überfremdet ist und Leute an der Macht sind, die über ihre Schicksale verfügen, was sie verunsichert.


2007 fingen Sie an, die „Schlafwandler“ zu schreiben, weil sie eine neue Zeit der Unsicherheit erkannten. In welcher Zeit leben wir heute?


Wir leben in einer Zeit, die stark an jene von 1914 erinnert. Die Welt ist wieder multipolar. Neue Regionalmächte wie die Türkei und Iran treten auf, das östliche Mittelmeer ist zu meinem Erstaunen wieder ein Konfliktgebiet. Die Streitigkeiten um Libyen mit den Türken im Westen und die Ägypter und Russen im Osten, der Inselstreit zwischen der Türkei und Griechenland, bilden eigentlich das ab, was man früher die Orientfrage nannte. Heute gewinnt sie unerwarteter Weise an Bedeutung. Es ist wirklich eine starke Rückkehr der Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die alten Muster, die man für obsolet und überholt hielt, sind wieder gegenwärtig. Es ist eine Zeit, in der wir eine klare Ordnung und Fahrtrichtung der Weltgeschichte nicht mehr erkennen können.


Wenngleich sie immer schon schwer erkennbar war.


Jedoch hatten die Menschen im Westen doch das Gefühl, dass man die Fahrtrichtung kannte. Man glaubte, man sei modern, das Wachstum dauere an, der Reichtum nehme zu und sickere von oben nach unten, allen würde es besser gehen. Das Gefühl ist nicht mehr da, als man sich noch als Bestandteil in einer Geschichte der Modernisierung aufgehoben fühlte.


Es herrscht allgemeine Verunsicherung.


Es gibt eine objektive Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit.  Es gibt zudem eine erhöhte Sensibilität gegenüber dieser Unsicherheit: Wir sind schlechter gerüstet, weil wir keine gemeinsame Story mehr haben, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Bei dem Klimawandel könnte man so ein gemeinsames Narrativ durch eine gemeinsame Politik finden, man könnte sagen, wir wissen, auf welchem Weg wir uns befinden. In allen anderen Fragen hat man keine Antworten, keine Konzepte. Die Zukunft erscheint inhaltslos und erschöpft. Das wird durch das Phänomen Covid-19 verstärkt. Für die junge Generation ist es so, als würde es gar keine Zukunft mehr geben. Sie schauen in eine strukturlose, nebelige Zeit hinein.


Nasseb Nicholas Taleb prägte den Begriff des Schwarzen Schwans, womit er ein absolut unvorhersehbares Ereignis meint. Viele zählen die Pandemie ja auch dazu. Er verwies in Bezug auf das Marktgeschehen auf die vielen unbemerkt bleibenden Katastrophen. Stehen wir viel häufiger auch in anderen Feldern am Abgrund und bemerken es nur nicht?


Taleb würde die Pandemie wohl nicht als Schwarzen Schwan beschreiben. Die Gefahr der Pandemie war doch in aller Munde. Es gab komplexe Modelle, welche Auswirkungen sie etwa auf EU-Staaten haben könnte. Es gab zum Teil mehrere großartige Studien dazu. Viele Experten auf diesem Gebiet sagten, dies werde die nächste große Disruption sein. Sie war immanent vorhersehbar und daher kein Schwarzer Schwan. Interessant an Talebs Argument war die Behauptung, dass wir nicht gut gerüstet sind, mit dem Unerwarteten umzugehen und uns viel zu sehr einschläfern lassen von der Gauß’schen Normalkurve.


Wir rechnen nicht mit dem Extremfall?


Er meint, es hat etwas mit der Deformation der modernen Statistik zu tun, dass wir denken, alles geht so weiter. Das kann auch so sein. Die Menschheit wurde schon immer von großen Ereignissen überrascht. Es hat mich interessiert, weil er die Möglichkeit sichtbar machte, dass die Unsicherheit nicht nur an der objektiven Welt geht, sondern um unsere Fähigkeit, mit der Unsicherheit umzugehen. Das bringt eine Dimension der Subjektivität in das Problem hinein.


Die Unsicherheit wurde in den Schlafwandlern gezeigt anhand der wachsenden Nervosität der Bündnispartner. Ist es heute ähnlich?


Ja, die Gefahr eines Krieges wuchs stark durch den Vertrauensverlust innerhalb der Bündnisse. Das wirkte stärker als das gegenseitige Misstrauen zwischen den Bündnisblöcken. Man schaute natürlich gebannt auf die sich vertiefende Kluft zwischen der Triple Entente und dem Dreibund, klar. Die Tatsache, dass Italien sich in Libyen 1911 so unberechenbar verhalten hat oder das Misstrauen zwischen Großbritannien und Russland verschwand nie. Noch 1914 gab es Überlegungen, sich wieder mehr Russland anzunähern. Auch das Misstrauen zwischen Frankreich und Russland wuchs.


Die Unsicherheit erhöhte die Konfliktfälligkeit der Bündnisse?


Und damit ihre Risikobereitschaft. Die Franzosen sagten, man müsse auf einen Krieg jetzt oder sehr bald hoffen, weil in zwei, drei Jahren auf die Russen kein Verlass mehr ist. Die Russen sahen es ähnlich, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, da Poincaré, der ihnen gut gesonnen ist, bald weg sein könnte. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt: So dachten auch die Deutschen. Die Österreich-Ungarn könnten ja in die Arme der Russen wandern und in ein paar Jahren eine drittklassige Macht sein. Ohne sie könnten wir überfordert sein, wenn es dann zu einem Krieg kommt, dachten sie. Also besser jetzt als später. Das hing mit der Unsicherheit gegenüber dem eigenen Bündnis-Partner zusammen.


Die Unsicherheit sieht man auch jetzt im transatlantischen Verhältnis.


Ich will jetzt nicht alles das als der Weisheit letzter Schluss bezeichnen, was die Nato jemals gemacht hat. Aber es stimmt doch die Gefährdung der Nato kein Garant für den Frieden sei, sondern im Gegenteil. Ein Zusammenbruch der Nato würde eher zu großen Gefahren führen. Die Nato ist ein Stück Zuverlässigkeit und Kontinuität mit der Vergangenheit. Sie ist auch ein Garant für eine gewisse Vorhersehbarkeit für die Verhandlungen zwischen den Staaten. Die Vorstellung, dass jeder Staat wieder für sich handelt, die Multilateralität wegfällt, wie Trump das immer wieder forderte, wäre fatal für die Sicherheit der Menschen, vor allem in Europa und überhaupt nicht wünschenswert.


Vielleicht bringt ja Joe Biden Stabilität zurück.


Ich hoffe sehr darauf. Man muss nicht alles an der Trump-Zeit schlecht finden. Die Skepsis gegenüber Kriegen in aller Welt wurde von vielen Amerikanern begrüßt, nicht nur von den Trump-Anhängern. Ich hoffe, diese Vorsicht hält an und wird von Biden übernommen und es keine Rückkehr in die aktive Politik der Clinton-Ära geben wird. Ruhig, aber führend in den großen Fragen, die die Menschheit bewegen, sollten die Amerikaner auftreten. Die Kanäle zu China und Russland sollten offen bleiben, die Gespräche mit den Partnern möglichst klar und ruhig geführt werden, das wäre mein Wunsch. Auch Kamala Harris scheint auch eine beeindruckende Person sein. Es wird eine richtige Partnerschaft mit Biden sein.


Trump haben Sie in Ihrem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ mit Wilhelm II. verglichen. Warum?


Alles, was man über Wilhelm II. sagte, kann man auch über Trump sagen, eine verblüffende Ähnlichkeit, der Mangel an Empathie, die Sprunghaftigkeit, die Unfähigkeit auf einer Linie zu bleiben, die Reizbarkeit, die Aggressivität verbunden mit einer Ängstlichkeit, alles ist bei beiden Männern zu finden. Wilhelm II. war Trump in vielerlei Hinsicht intellektuell jedoch weit überlegen, er hätte sich auch nie gegenüber Frauen so herablassend geäußert, er hätte das als degoutant empfunden. Die Deutschen haben ihn nicht gewählt, sie haben ihn einfach bekommen.  Er war die Frucht der dynastischen Biologie. In den USA haben jedoch über 60 Millionen Trump gewählt. Auch Demokratien können Ungeheuer hervorbringen. Es verändert für mich den Deutungsrahmen bei Wilhelm II. Bei ihm habe ich immer an eine sehr deutsche Figur gedacht als Verkörperung  des Deutschen seiner Zeit, der nassforsche Umgang mit Menschen, Sprunghafte, Geltungszwang und Nervosität. Das alles erkennt man wieder bei Trump.


Sie schreiben in dem Buch von Daniel, der den Traum des Königs Nebukadnezar deutet, und ihm eine Folge von Reichen prophezeit. Ist diese Endlichkeit nicht auch ein Trost, dass alles irgendwann vorüber ist?


Diese Szene ist eine faszinierende Fabel über die Macht. Man nennt es den Traum Nebukadnezars, eigentlich ist es der Traum Daniels, der dem König sagt, was sein Traum gewesen ist. Er hat das durch eigene Einsicht und Menschenverstand erkannt, dass es um die Sterblichkeit und Endlichkeit in dem Traum Nebukadnezars ging. Denn nur vor dem eigenen Tod kann ein so mächtiger Mann wie der König so viel Angst haben. Das sagt ihm sein Verstand und diesen bringt er in den Traum ein. Der König akzeptiert die Traumdeutung, weil sie so gut zu seiner psychischen Lage passt. Die Hauptlektion ist die Endlichkeit der Macht, es wird nicht ewig sein. Der Trost ist, dass der Ruhm nie verblassen wird und nach ihm nur Schlimmeres kommen wird. Bis in die frühe Neuzeit diente der Traum als prophetische Erzählstruktur der Weltgeschichte. Es ist eine Prophezeiung, glaubte man. Es ist ein lohnender Stoff.


Trump hat so seine Probleme damit.


Ja, ihm fehlt ein Daniel, der ihn versöhnen kann mit dem Gedanken des Endes seiner Macht. Keine Vorstellung über die Zukunft nach ihm zu haben, ist oft bei Machtversessenen der Fall. Das sieht man auch bei Wladimir Putin, dass sie keine Vorstellung davon haben, was nach ihrer Macht kommt. Seine Lebenszeit und die Weltzeit sind identisch. Das ist bei Trump so. Dennoch ist die Macht endlich. Irgendwann wird er aus dem Weißen Haus entfernt sein. Nebukadnezar hat schlimme Jahre vor sich. Vielleicht blühen sie auch Trump. Mit dem Ende von Trumps Präsidentschaft endet aber nicht das Problem Trump, die Bewegung gibt es immer noch und wird weiter für Verunsicherung sorgen. Wenn die Macht den Mächtigen genommen wird, können sie sich überraschend schnell verflüssigen, ich hoffe, dass es dazu kommt. Er fokussiert sich jetzt auf einen ultrarechten Kanal und löst sich von Fox News – es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, denn es zeigt den Anfang eines Prozesses der Differenzierung. Es wird immer klarer erkennbar, dass dies extrem rechts ist. Denn was als Mitte der Gesellschaft galt, entpuppt sich nun als extrem rechts. Die Republikanische Partei vielleicht wieder eine Wirbelsäule wachsen lassen und sich so vielleicht besinnen.


Interview: Michael Hesse

"Durch die Pandemie ist das Misstrauen in das System noch einmal

gewachsen"

Er ist der angesagteste Soziologe der Gegenwart: Andreas Reckwitz über die Frage, ob nach der Pandemie alles nun ganz anders werde und die Zukunft der neuen Mittelklasse

Professor Reckwitz, können Sie in dieser Zeit des durch die Corona-Pandemie bedingten Stillstandes besonders gut erkennen, wie die Gesellschaft tickt?


Man erkennt die Strukturen deutlicher, die man in der spätmodernen Gesellschaft schon vorgefunden hatte und die sich nun noch einmal verstärken. Am Anfang der Coronakrise gab es sehr schnell den Diskurs nach dem Motto des „alles wird ganz anders“. Kurzfristig war es ja auch so. Dann hieß es mit Betonung auf der Zukunft, „alles wird ganz anders werden“. Das hatte mitunter den Unterton, dass auch alles anders werden sollte. Größtenteils war dies wohl „wishful thinking“, übrigens auch in der medialen Berichterstattung. Als würde man sich nun auf das Wesentliche besinnen, jetzt komme der große Bruch, alles würde nachhaltiger und konzentrierter werden.


Und wird es zum großen Bruch kommen?


Aus soziologischer Perspektive bin ich da skeptisch. Ich würde eher sagen, bestimmte Strukturen, die es zuvor bereits gab, intensivieren sich und werden deutlicher sichtbar. Bestes Beispiel ist natürlich die Sozialstruktur der spätmodernen Gesellschaft. Die große Diskrepanz besteht in der postindustriellen Gesellschaft zwischen der neuen Mittelklasse in der Wissensökonomie und der neuen Service Class mit den einfachen Dienstleistungen. Beide haben in der jetzigen Krise auch eine mediale Sichtbarkeit bekommen.


Werden die Abgrenzungen zwischen der neuen Mittelklasse und der Unterschicht nach der Krise noch klarer werden?


Diese Aufspreizung zwischen Wissensökonomie, also Knowledge-Workern, einerseits und einfachen Dienstleistungen andererseits, ist Teil einer Entwicklungstendenz, die es seit den 1980er Jahren gibt. Ich würde vermuten, dass sich dieser Gegensatz noch weiter verstärkt. Die traditionellen Mittelklasse-Berufe etwa aus dem industriellen Bereich oder klassische Bürotätigkeiten geraten dagegen durch die Digitalisierung zunehmend unter Druck. Dieses Segment dürfte künftig kleiner werden. Die besondere Situation der Service Class wird gegenwärtig sehr deutlich: Die einfachen Dienstleistungen sind einerseits gesellschaftlich notwendig – die Gesellschaft hängt von den Pflegeberufen bis hin zu den sich zu einer Boombranche entwickelnden Lieferdiensten ab -, auf der anderen Seite sind es Tätigkeiten, die sehr schnell wegfallen können, die sehr krisensensibel sind, etwa in der Gastronomie oder im Tourismus. Die starke Vulnerabilität ist zurzeit sehr deutlich, und zugleich sind es Tätigkeiten, die - obwohl so notwendig - bisher nur eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung erfahren haben.



Das klingt nach Parallelgesellschaften.


Es sind sehr unterschiedliche Lebenswelten. Auch die subjektive Erfahrung der Coronakrise ist in den Segmenten sehr gegensätzlich. In der neuen Mittelklasse, das heißt vor allem unter Akademikerinnen und Akademikern wird teilweise über Entschleunigung gesprochen, in dem Sinne, dass man sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren könne. Einige sagen, durch die Krise ginge es ihnen eher noch besser, da nun bestimmte lästige Dinge wegfielen wie Dienstreisen und sie sich die Frage stellen könnten, was überhaupt wichtig für ihr Leben sei. In diesem Segment haben gewisse Reflexionsprozesse über Lebenssinn und Lebensausrichtung eingesetzt.


Und wie sieht es dagegen in der Unterklasse aus?


Da bleibt das muddeling through, das Durchwursteln, Sich-Durch-Beißen die Lebenshaltung. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das sehen wir in allen westlichen Gesellschaften, eigentlich auch auf globaler Ebene. Stand am Anfang der Coronakrise die gemeinsame Erfahrung, der Glaube, es betreffe alle gleich, da man wie eine Art Weltgesellschaft mit dem Virus konfrontiert sei, so sehen wir nun, dass dieser Moment der Gleichbetroffenheit doch nur recht kurz war: Von der Krise mag jeder betroffen sein, aber je nach sozialem Background in sehr unterschiedlicher Weise.


Zeigt sich das nicht besonders in der Bildungspolitik?


Auch hier gilt, dass die Trennlinien nicht nur sichtbarer geworden sind, sondern sich eher sogar verschärfen. Kinder aus der neuen Mittelklasse, die meist auf Gymnasien gehen, werden auch von ihren Eltern weiter gefördert. Die Akademiker-Eltern betreiben intensives Homeschooling. Diese Kinder haben also weiterhin einen Lernprozess. Ihnen schadet das eine Jahr Schulausfall wohl nicht so stark. Auf der anderen Seite stehen die Schülerinnen und Schüler, die auf Brennpunktschulen gehen, die Förderung durch Schule und Elternhaus ist hier sehr viel schwieriger. Es ist zu befürchten, dass sie in der Coronakrise weiter zurückfallen, so dass sich die Bildungsdifferenz eher verschärft.


Es gibt die Phänomene der zahlreichen Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung, auf denen sich die verschiedensten Gruppen versammeln. Teile der Unterklasse, das rechte Milieu, aber auch Leute, die man eher im linken politischen Spektrum verordnen würde. Wie passt das zusammen?


Nach der Untersuchung des Kollegen Oliver Nachtwey aus Basel nahmen überaschenderweise eine ganze Reihe von Leuten an den Demonstrationen teil, die hohe Bildungsabschlüsse haben. Es bleibt abzuwarten, ob das in dieser Ausprägung ein besonderes Phänomen des deutschsprachigen Raums ist. Unabhängig davon gilt allerdings: Schon vor der Krise gab es einen beträchtlichen Teil in der Gesellschaft, der von Systemmisstrauen geprägt gewesen ist, neben dem großen Teil jener, die ein Systemvertrauen besitzen. In diesem Segment bedeutet Systemmisstrauen alles, ein Misstrauen in die Funktionseliten, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Das gab es zuvor auch und wurde insbesondere durch den Rechtspopulismus bedient. Das erkenne ich jetzt wieder. Möglich ist, dass in der Coronakrise durch die sehr ungewohnten Maßnahmen des Staates, der in die privaten Lebenswelten eingreift, sich auch bei Individuen, die bisher nicht durch Systemmisstrauen aufgefallen sind, ein solches themenspezifisch herauszukristallisieren beginnt.


Das Misstrauen greift in weitere Gesellschaftsbereiche über?


Das wissen wir noch nicht. Aber in einer Krisensituation wie Corona könnten die Karten neu gemischt werden, könnte bei manchen bisher eher Unpolitischen ein grundsätzlicher Vertrauensverlust einsetzen. Dann ist man unzufrieden mit der aktuellen Coronapolitik, beginnt bestimmte Internetseiten zu lesen, bestimmte Informationen aufzubauen, sich in eine Partial-Öffentlichkeit hineinbegeben, die sich selbst verstärkt und die sich dann in wenigen Wochen oder Monaten digital radikalisiert. Es ist noch kein festes Milieu, aber es könnte an das bisherige Systemmisstrauen andocken, dass wir bei den Rechten finden, das wird ja auch in der Untersuchung von Nachtwey deutlich. Im Moment scheint es eher noch eine Schwarmbewegung zu sein.


Der Staat ist wieder im Fürsorgemodus gegenüber seinen Bürgern. Ein Vorteil?


Der Staat hat eine Steuerungsfunktion bekommen, die er sich vorher jahrzehntelang abgewöhnt hatte. Und teilweise ist er nicht besonders gut darin. Der Rückzug des Staates ist etwas, was bereits seit der Finanzkrise in die Kritik geraten ist. Seitdem musste er aktiver werden, ein prägnantes Beispiel war die Bankenrettung. Die Frage stellte sich danach, ob es nicht auch generell nötig ist, dass Staatlichkeit aktiver und regulierender auftritt, etwa wenn es um soziale Ungleichheit oder digitale Aggressivität geht. Die Erwartungen an den Staat haben sich in den letzten Jahren wieder intensiviert: Gerade die hyperdynamische und globalisierte Gesellschaft bedarf offenbar doch stärker öffentlicher Funktionen, zum Beispiel im Gesundheitswesen  oder im Katastrophenschutz oder in der Bildung, in den Schulen, usw. Die Kritik an der rein neoliberalen Politik, die auf Markt und Wettbewerb setzt, wird mittlerweile von vielen geteilt.


Da das Bedürfnis da ist, könnte die staatliche Rolle so bleiben.


Die Frage ist, wie Staatlichkeit künftig definiert wird, auch etwa im Zusammenhang mit der Klimakrise, die uns in Zukunft sehr beschäftigen wird. Man kann eine interessante Verschiebung vermuten, die sich auch jetzt in der Corona-Krise andeutet: der Staat wird einerseits aktiver und gleichzeitig beschränkt er sich auf eine Schutzfunktion. Er ist nicht mehr so aktiv wie der klassische Wohlfahrtsstaat, wo es um mehr Gleichheit oder mehr Freiheit geht. Es geht eher um Risikomanagement, Prävention und Resilienz. Es ist also eine aktivere Rolle, aber auch eine defensivere Staatlichkeit, in der es vor allem darum geht, Risiken zu minimieren. Natürlich kann man sich fragen, ob das ausreicht.


Der Begriff der Nation wird gerade diskutiert, um wieder mehr Gruppen unter einen Hut zu bekommen. Aleida Assmann hat es hier in einem Buch vorgetragen, in den USA die Historikerin Jill Lepore. Taugt das Modell?


Die Diskussion ist interessant. Der Begriff der Nation schien ja eine zeitlang für viele überholt zu sein, in Deutschland ohnehin. Die Frage, die Assmann und Lepore aufwerfen, ist aber, ob der Nationalstaat in mancher Hinsicht nicht sogar ein überraschend zeitgemäßes Modell sein kann, insbesondere wenn er sich mit globaler Kooperation verbindet. Nation heißt ja nicht Nationalismus. Terry Eagleton hatte vor Jahren einmal darauf hingewiesen, dass der Nationalstaat eine Art Doppel von Allgemeinen und Besonderen darstellt und dadurch spezifisch modern ist. Der Nationalstaat erhebt ja – jedenfalls wenn er republikanisch, nicht völkisch-ethnisch ausgerichtet ist – den Anspruch, die Allgemeinheit aller Staatsbürger zu adressieren, unabhängig von der Herkunft oder Klasse. Nach innen ist er also sozial inklusiv. Gleichzeitig hat die Nation aber auch kulturell etwas Besonderes, Singuläres; jede Nation ist anders, sie hat etwa ihre eigene Geschichte. Diese Singularität liefert einen Identifikationsort für eine kollektive Identität, selbst wenn es eine schwierige und gebrochene Geschichte ist. Das Allgemeine und das Besondere kommen in dem Nationsbegriff also zusammen. Ich verstehe es so, dass Lepore und Assmann einen republikanischen Nationsbegriff vertreten, also die Idee einer multi-ethnischen Nation. Das läuft einem völkischen Nationsbegriff entgegen, wie man ihn aus der deutschen Geschichte lange kannte.


Aber ist dieses Konzept nicht schon deshalb weniger integrierend als erhofft, weil es aus dem liberalen Milieu entstammt? Lassen sich die Gräben so überbrücken?


Wenn der Nationsbegriff nun aus dem liberalen Milieu stark gemacht wird, ist das in jedem Fall eine interessante Entwicklung, man hätte ihn ja eher im konservativen oder gar rechten Milieu vermutet. Ich denke aber, dass auf der liberalen Seite einiges in Bewegung geraten ist, auch was die Kritik an den neuen Klassenverhältnisse und an der Erosion ziviler Normen des Zusammenlebens angeht. Ob der Begriff der Nation da tatsächlich eine neue Integrationsformel darstellen kann, bleibt sicher abzuwarten.


Interview: Michael Hesse

"Trumps Anhänger leben in einem eigenen Universum"

Francis Fukuyama über das Amerika Trumps und den Sturm aufs Kapitol

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde nach dem Ende des Kalten Krieges mit der These weltberühmt, dass nun das Ende der Geschichte gekommen sei. Mittlerweile sieht er das anders. Aus dem früheren Anhänger der republikanischen Partei ist nunmehr ein Befürworter der Politik der Demokraten geworden. Im Interview spricht er über den Sturm auf das Kapitol im Januar dieses Jahres.


Professor Fukuyama, erinnern Sie sich ein vergleichbares Ereignis in der amerikanischen Geschichte: Das Kapitol brennt und der Präsident schaut zu?


Nein, gewiss nicht. Allerdings gab es einige Vorläufer für dieses Ereignis. Militante Pro-Trump-Gruppierungen hatten ja bereits in den einigen US-Städten wie Michigan die Kapitole gestürmt. Aber natürlich hatte bis dahin niemand einen Angriff auf den US-Kongress organisiert. Wirklich schlimm ist, dass diese Aktionen durch den US-Präsidenten selbst organisiert worden sind. Das findet noch nicht genügend Beachtung.


Ist das der finale Auftakt oder eher das Ende des Kampfes zwischen Demokraten und Populisten? 


Das ist ungewiss. Trump hat dermaßen überzogen, dass nun endlich einige der republikanischen Politiker mit ihm gebrochen haben. Mitch McConnell und Lindsay Graham, die Trump all die Jahre treu dienten, haben nach den Krawallen wirklich gute Reden gehalten. Sie haben sich von Trumps Behauptung, die Wahlen seien gestohlen, distanziert. Und sie haben die richtigen Worte für die Gewalt gefunden, die es an dem Tag gegeben hat. Eine überwältigende Mehrheit im Senat hat im Sinne des Wahlresultats abgestimmt. Das ist ermutigend. Es ist ein finaler Bruch in der republikanischen Führerschaft, da sie ihn nun offen kritisieren. Die Frage ist, wie der Rest des Landes die Geschehnisse interpretieren wird. 


Was glauben Sie?


Das Hauptproblem ist doch, dass viele der Trump-Unterstützer in ihrem eigenen Universum leben. Sie informieren sich absolut einseitig. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass Trump die Wahlen gewonnen hat und die Demokraten sie einfach gestohlen haben. Und wenn man so etwas wirklich glaubt, hat man natürlich Wut. Ich glaube, das erklärt, was diese Menschen angetrieben hat. 


Die Menschen haben den Wirklichkeitsbezug komplett verloren?


Sie leben in einer alternativen Realität, die durch die einseitige Nutzung des Internets und der sozialen Medien geschaffen wird. Befeuert wird das noch durch die Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten diese Vorstellungen immer weiter bedient. Wenn das aufhören würde, könnte sich die Lage wieder normalisieren. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, was in dieser Richtung noch alles passieren wird.


Twitter und Facebook haben umgehend reagiert, endlich sagen viele. Wie sollte man mit den sozialen Medien nun verfahren?


Meiner Meinung nach sollten sich Twitter und Facebook nicht als Wächter der Demokratie aufspielen, denn sie sind nur private Unternehmen. Sie besitzen nicht die Legitimität, um solche Entscheidungen zu treffen. Wenn Twitter nun Trumps Account sperrt, kann man natürlich sagen, dass man das schon hätte deutlich früher hätte tun sollen. Aber die Frage ist doch, ob man solche elementaren Entscheidungen einem Privatunternehmen überlassen sollte. Ich bin dagegen, es in die Hände der drei Unternehmen Google, Facebook und Twitter zu legen, was eine politisch opportune Meinung ist und welche nicht. Auch wenn es kurzfristig richtig erscheinen mag, dass sie Trumps Account gesperrt haben, ist das langfristig gesehen nicht ihre Aufgabe. Es könnte dazu führen, dass sie besonders die Leute sperren, die sie politisch nicht besonders mögen. 


Viele glauben in den Reaktionen ja einen Sieg der demokratischen Strukturen der USA zu erkennen. Aber ist es nicht zugleich ein starkes Signal für ähnliche populistische Strömungen, auch in anderen Teilen der Welt, was man am Mittwoch sehen konnte? 


Es ist auf keinen Fall ein guter Präzedenzfall, dass dies ausgerechnet in einer alten Demokratie wie den USA passiert ist. Die Vereinigten Staaten haben durchgehend politische Führer in allen Teilen der Welt kritisiert, wenn sie Wahlergebnisse gefälscht haben oder ohne demokratische Legitimation an der Macht verblieben. Und dann haben wir so einen politischen Führer in den USA, der vielleicht nicht exakt so wie diese Diktatoren ist, aber doch ein autoritärer Politiker. Das ist eine schlechte Botschaft an den Rest der Welt, die von Washington ausgeht: Man akzeptiert auch hier die Wahlergebnisse nicht, sondern bedient sich der Gewalt, um seinen Willen zu bekommen. So etwas passiert gewöhnlichen in kleinen schwachen Demokratien, aber so etwas darf nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika passieren! 


Trump hat bis Donnerstagnacht das Wahlergebnis nicht anerkannt. Ist das nicht ein völliger Bruch mit den demokratischen Prinzipien des Landes?


Natürlich! Das ist ein absoluter Bruch mit den demokratischen Spielregeln. Ein einmaliger Vorgang in der amerikanischen Geschichte der Demokratie. 


Sollte Trump trotz der Kürze der Zeit zur Amtsübergabe aus dem Amt entfernt werden?


Ich wäre überglücklich, wenn es ein zweites Amtsenthebungsverfahren gegen Trump geben würde, egal ob es durch den 25. Verfassungszusatz geregelt wird oder durch den Kongress. Man würde so ein eindeutiges Zeichen setzen, dass diese durch einen Präsidenten ausgelösten Vorgänge absolut unakzeptabel sind. 


Amerika erscheint als ein tief gespaltenes Land.


Das ist seit 20 Jahren ein wachsendes Problem und hat sich unter diesem Präsidenten noch verschlimmert. 


Die große Frage ist ja, ob nun noch mehr von den Trump-Anhängern kommen wird.


Ja, das kann sein. Trump ist in seinem Amt nun völlig isoliert. Die größte Gefahr geht von dem aus, was er sagt. Seine Äußerungen über den Wahlausgang haben zu einem immensen Schaden geführt. 


Kann man ihm glauben, dass es zu einer geregelten Amtsübergabe kommen wird?


Ich wüsste nicht, welche Alternative er dazu noch hätte. Nachdem er die Wahlen anerkannt hat, wird er nicht mehr das Militär rufen können, um ihn zu schützen. Und er wird es wohl eher nicht darauf anlegen, dass er physisch aus dem Weißen Haus durch den Secret Service entfernt werden muss. Trump wird vermutlich friedlich abtreten. 


Trump stand ja damit nicht alleine, er erhielt eine umfassende Unterstützung durch die Mitglieder der republikanischen Partei.


Ja, das ist richtig. Viele standen antidemokratischen Prinzipien nahe. Dennoch befinden wir uns an einem Wendepunkt. 93 Senatoren haben das Wahlergebnis akzeptiert, wer die Reden von den Republikanern liest, die sie nach den Vorfällen im Kapitol gehalten haben, kann in eindrucksvoller Weise erkennen, dass sie grundsätzlich mit Trump gebrochen haben. Sie sagen eindeutig, dass diese Ereignisse unakzeptabel sind. Sie haben feststellen müssen, dass dieser Präsident Kräfte entfesselt hat, die sie selbst physisch bedroht haben. 


Ein Wendepunkt? Immerhin haben 74 Millionen Amerikaner für Trump gestimmt. Was wird man da in der Zukunft erwarten müssen?


Das ist natürlich absolut richtig. Und ich bin wirklich enttäuscht, dass so viele Amerikaner für diesen Idioten gestimmt haben. Schon bevor er 2016 gewählt wurde, war er in meinen Augen ein absolut unterqualifizierter Bewerber um dieses hohe Amt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so ein Lügner jemals Präsident der USA hätte werden können. Die Tatsache, dass er gewählt wurde und eine breite Unterstützung genossen hat, die ja zum Teil sogar fanatische Züge trägt, ist für mich immer noch erstaunlich und zutiefst enttäuschend. Eine der erstaunlichen Ergebnisse der letzten Wahl war jedoch, dass die republikanische Partei auf Landesebene besser abgeschnitten hat als Trump selbst. 


Wie erklären Sie sich das?


Das Wahlergebnis der Republikaner wurde sicher auch durch die Angst und die Missbilligung dessen beflügelt, was die Demokraten politisch verkörpern. Die Demokraten sollten das verstehen, viele Wählen die Republikaner, weil sie das politische Programm der Demokraten nicht teilen. Das hat wenig mit Trump zu tun. Nur um ein Beispiel zu geben: Sie mögen es nicht, wenn die Demokraten davon sprechen, die Polizei zu entmachten. Es gibt eine Reihe anderer Dinge auf dem linken politischen Spektrum, die Wähler der Republikaner Angst machen. 



Welche Politik ist nun die richtige, um die Menschen in den Vereinigten Staaten wieder stärker zusammenzubringen?


Das ist wirklich schwer zu beantworten. Es ist auf jeden Fall wichtig, diese Trump-Koalition zu spalten zwischen denen, die Trump unterstützen und jenen, die ohne Trump-Unterstützer zu sein für die Republikaner votieren. Das hat Joe Biden auch zum Teil schon hinbekommen, in dem er Wähler der Mittelklasse aus den Vorstädten Trump abspenstig machen konnte. Das grundlegende Mittel, den Trumpismus zu besiegen, ist nach wie vor, die Wahlen zu gewinnen. Und ich denke, dass dieser Prozess funktionieren wird. 


Inwiefern?


Denken Sie nur vier Jahre zurück, da kontrollierten die Republikaner das Repräsentantenhaus, den Senat und stellten den Präsidenten. Und nun kontrollieren sie nichts mehr davon. Menschen lieben aber nun einmal Gewinner und den Erfolg. Wer nicht erfolgreich ist, verliert auf Dauer die Unterstützung. An diesem Punkt werden die Wähler auch den Republikanern abtrünnig. 


Wird sich die Aufregung schnell legen und eine Rückkehr zur Normalität stattfinden, sobald Biden das Amt antritt?


Ich denke nicht. Wenn man sich das Denken der Trump-Anhänger hineinversetzt, ist ja klar, dass es eine unlegitimierte Präsidentschaft ist. Der Übergang wird also nicht einfach sein. Ich erwarte weitere Gewaltausbrüche. Auch die Proteste werden nicht verschwinden. Wie auch immer. Für Biden wird die Tatsache, dass die Demokraten nun im Senat durch die Stimme der künftigen Vizepräsidentin, Pamela Harris, die Mehrheit haben, vieles einfacher machen. Die Republikaner hätten jede im anderen Fall jede einzelne seiner politischen Entscheidungen blockiert. Nun haben sie nicht die Chance dazu. Das könnte vieles besser machen.


Wird es ein Comeback von Trump geben können? Biden hat ja immense Probleme zu meistern, die Pandemie, die durch sie ausgelöste massive Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit.


Das hängt alles von Dingen ab, die wir nicht kennen. In einen gewissen Sinne profitiert Biden von einigen Entwicklungen: Es gibt die Impfstoffe, die Pandemie wird in naher Zukunft enden, damit wird eine Rückkehr zum normalen wirtschaftlichen Leben möglich. Ganz objektiv sieht es für ihn gut aus. Aber es ist schwer, Voraussagen zu machen.


Welche Bedeutung hat das für die Welt in Bezug auf populistische Strömungen?


Wenn man sich die europäischen populistischen Strömungen ansieht, weiß man, dass sie die Entwicklungen in den USA als eine Art Vorbild ansehen. Möglicherweise könnten sie nun sagen, dass der nächste Schritt in Aktionen besteht, die auf physischer Gewalt beruhen. Andererseits hat das amerikanische politische System die Republikaner durch die Wahlen in Georgia abgestraft. Das zeigt doch, dass demokratische Prozesse in den USA immer noch funktionieren und dass Fehler durch die Wähler korrigiert werden können. Die Menschen sollten sich überall bewusst machen, dass Demokratie für eine friedliche Auflösung von Konflikten steht. Und die Institutionen, die dafür stehen, können funktionieren. Auch in den USA haben sie am Ende funktioniert, trotz der zahlreichen Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt sahen. Das liefert doch einige Gründe für die Annahme, dass wir durch all das irgendwie hindurchkommen werden.


Interview: Michael Hesse

Das Vereinigte Königreich und die USA fallen auseinander"

Harold James zählt international zu den wichtigsten Wirtschaftshistorikern - Im Interview spricht er über die Folgen der Pandemie und verspricht der EU eine goldene Zukunft

Der britische Historiker Harold James lehrt an der Princeton University in den USA. Aus seiner Feder stammt unter anderem das Buch „Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001“, erschienen im Verlag C.H. Beck.


Professor James, in der Welt herrscht nicht nur wegen der Pandemie eine allgemeine Unsicherheit. Die Folgen des Brexit sind unübersehbar, Chinas Politik ist weiterhin aggressiv und der Weg der USA ist trotz des neuen Präsidenten unklar. Wie sehen Sie den Zustand der Welt?



Es gibt eine große Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft. Die Frage stellt sich, ob die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich die jeweiligen Herausforderungen bewältigen können. Die Pandemie selbst ist ein Produkt der Globalisierung. Sie hat zuerst dort zugeschlagen, wo die Welt am stärksten globalisiert gewesen ist. In den norditalienischen Gebieten, die am massivsten betroffen waren, in New York, in England. Viele Probleme sind aber schon vor der Coronakrise da gewesen.


Inwiefern?


Ich meine damit etwa die Beobachtung, dass sich die Welt in Richtung China und Asien bewegt, so dass es zu einem neuen Gleichgewicht kommen wird, die USA also mit ihrem Wirtschaftswachstum nicht mehr so dominant sein werden. Auch, dass es Rückschläge für die Globalisierung geben würde, wusste man schon vorher. Das gilt auch für den Aspekt der durch die Globalisierung hervorgerufenen Arbeitslosigkeit oder die Forderung, die Lieferketten zu verkürzen und mehr im eigenen Land zu produzieren. Dann erst kam Corona. Auch der Vakzin-Nationalismus überrascht nicht wirklich. Aber ich habe am Ende eine gewisse optimistische Sicht.


Wie sehen Sie denn den Zustand Europas? Die Briten sehen sich nach dem Brexit ja durch das Impfen erst einmal vorneweg.


Das ist eine Momentaufnahme. Es stimmt schon, dass Großbritannien mit seiner Impfpolitik mehr Erfolge als die EU hatte, aber in einigen Monaten wird auch das anders aussehen. Dann wird Europa den Rückstand aufgeholt haben. Die Sterblichkeit in Großbritannien war während der Pandemie höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Man kann also nicht sagen, dass die Corona-Politik von Großbritannien ein Erfolg gewesen ist.  Und vor allem kann man nicht sagen, dass der Brexit große Erfolge für Großbritannien gebracht hat, außer in diesem einen Fall mit den schnellen Vertragsabschlüssen mit den Vakzinherstellern. Man sollte die Frage grundsätzlicher sehen.


Nämlich wie?


Es wird leichter für Europa sein, ohne Großbritannien weiterzumachen. Die Herausforderung für Europa war nach der Finanzkrise von 2008 und noch mehr nach der Schuldenkrise 2010, dass man mehr fiskalische Solidarität in Europa braucht.  Es waren nicht die Briten, sondern vor allem die Engländer, die dagegen gesteuert haben. In Schottland gab es hierzu eine andere Sichtweise. Großbritannien war immer ein Bremser in dieser Bewegung. Die Engländer haben gesagt, ja, man sollte theoretisch mehr in Richtung Fiskalunion gehen, aber ohne uns. Es wird ohne Großbritannien in der EU viel einfacher werden, diese Schritte zu unternehmen. Die Trennung zwischen EU und Eurozone ist eigentlich aufgehoben, indem alle EU-Mitglieder entweder Mitglieder im Währungsbund im Euro sind oder verpflichtet sind beizutreten, die einzige Ausnahme ist Dänemark. Das ist aber eine relativ marginale Sache, denn die dänische Währung ist durch die Krise sehr eng an den Euro gekoppelt. Niemand in Dänemark glaubt, dass man eine unabhängige Politik machen sollte. In diesem Sinne könnte man diese Spaltung überbrücken. Es war extrem kompliziert für Europa in den beiden Krisen 2008 und 2010/12, weil die Eurozone keinen Fiskalpakt gehabt hat. Und jetzt sieht man in der Coronakrise, wie dieser aufgebaut wird. Das ist ein Erfolgsmoment.


Ausgerechnet davon von Corona gebeutelte Europa könnte gestärkt aus der Krise hervorgehen?


Ja, durchaus. Auch was gerade in Italien passiert, ist ein Erfolgsmoment für Europa. Matteo Salvini sagte schon vor der Covid-Zeit, dass der Euro zu Beginn ein Fehler gewesen sei, es aber jetzt keinen Sinn mache, auszutreten. Man müsse da weitermachen. Die Unterstützung von Salvini für die Draghi-Regierung ist ein Bekenntnis, dass es außerhalb des Euros keine Antwort für Italien gibt.


Was erwarten Sie für die Zukunft Großbritanniens? Jeweils ein Drittel erachtet in Wales, Schottland und Nordirland ein Referendum für eine Unabhängigkeit als sinnvoll. Die Geschichte lehrt, dass nichts ewig Bestand hat. Rechnen Sie damit, dass das Vereinigte Königreich zerfällt?


Das habe ich schon vor dem Referendum 2016 gesagt, dass der Brexit das Ende des Vereinigten Königreichs ist. Es wird andauern mit der irischen Grenze Probleme geben. Wir haben es erlebt beim Import der Vakzine, worauf man eine Hotline zwischen Brüssel und London  eingerichtet hat. Das wird immer weitergehen. Nordirland muss ein Teil der Wirtschaft von der ganzen Insel Irland sein. Aber es ist zugleich ein Teil des Vereinigten Königreiches und diese Position wird nicht haltbar sein. Und Schottland wird auch anders laufen. Besonders wenn die britische Wirtschaft schwächelt, und es ist davon auszugehen, dass es keine große Erholung geben wird, werden Schottland und Nordirland andere Wege gehen. Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg gibt es eine realistische Möglichkeit einen einheitlichen irischen Staat zu haben und nicht zwei. Auch die Frage der Konfession in Nordirland ist weit weniger wichtig, als sie es in der Mitte des 20. Jahrhunderts gewesen ist.


Wir stehen wieder vor einem Zeitalter der Sezession, auch mit Blick auf Amerika?


Es gab vor kurzer Zeit eine sehr interessante Umfrage in den USA, in der mehr als ein Drittel der amerikanischen Bürger eine Sezession in den USA befürwortete. Ich glaube nicht, dass es im Moment realistisch ist, aber denkbar erscheint es. Das ist gerade das Interessante, Europa  wächst zusammen, während Großbritannien und die Vereinigten Staaten teilweise auseinanderfallen.


Ist die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in ihrer Tiefe spezifisch für die USA oder ist das ein Phänomen, das man auch in anderen Ländern findet?


Ja, in Großbritannien ist es genauso. Die politische Ähnlichkeit zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten ist immer verblüffend. Und das ist die stärkste Parallele zwischen beiden. Viele sehen ja die Analogie zwischen Trump und Brexit. Es hängt natürlich miteinander zusammen. Ich sehe das wie viele andere auch als eine Folge der Globalisierung an. Es gibt einige Orte, die sehr gut an die globale Welt angebunden sind, und es gibt andere, die abgeschnitten sind. Daher die Bedeutung der Frage um den Mittleren Westen in den USA oder der Rust-Belt-States im Norden Englands, in Wales, wo die chinesischen Exporte eingeschlagen und zu Arbeitslosigkeit geführt haben. Die Polarisierung ist in vielen weiteren Ländern angekommen. Es ist kein Unikat der Vereinigten Staaten.


War Trump ein Zufall oder eine Notwendigkeit der Entwicklung?


In dieser Form war es nicht absehbar. Dass es eine Reaktion auf die Globalisierung geben würde, konnte man erwarten. Im Weißen Haus gibt es jetzt im gewissen Sinne die Fortsetzung der Obama-Regierung. Die Lehren, die jetzt dort gezogen werden, sind die Lehren, die man 2008/2009 aus der Finanzkrise gezogen hat und was dort schiefgelaufen ist. Es sind nicht die Lehren aus der Trump-Zeit. In diesem Sinne glaube ich, dass Trump wirklich ein Betriebsunfall gewesen ist.


Gerade beginnt eine neue Debatte über den Sinn von Nationen, diesmal aus der Mitte der Gesellschaft. Jill Lepore in den USA und Aleida Assmann in Deutschland suchen integrative Nationsbegriffe, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Wird das Erfolg haben?


Man sucht heute die Identität anderswo als in den klassischen Nationalstaaten. Das Buch von Jill Lepore ist sehr, sehr schön, wunderbar argumentiert. Aber es ist ein Wunschgedanke von den Vereinigten Staaten, wie diese vielleicht unter den Präsidenten Eisenhower und Kennedy existiert hatte.



Befinden wir uns in einer Phase der De-Globalisierung?


Nein! Nach der Finanzkrise gab es einen partiellen Rückschlag. Es gab eine verlangsamte Globalisierung, so dass einige das Schlagwort der Slowgalisation prägten. Wenn man diesen Schock vergleicht mit anderen Schocks in der Geschichte, kommt man zu dem Schluss, dass, wo wir jetzt sind, es nicht um ein Nachfragedefizit geht, das ist nicht wie die Weltwirtschaftskrise und nicht wie 2008 in der Finanzkrise. Die Globalisierung ist durch eine Pandemie unterbrochen worden. Es gibt Knappheit, es sind einige Warenpreise, die jetzt steigen, der Ölpreis steigt, die  Getreidepreise steigen. Das ist ähnlich wie die 1970er Jahre mit der Ölkrise, die Rohstoffe, Getreide und Gebrauchsgüter waren da auch in einer Blase. Daran sieht man, dass man mehr Verbundenheit und Bindungen weltweit braucht.


Die 1970er haben zu einer Intensivierung der Globalisierung geführt?


Die Anfänge der modernen Globalisierung waren mit gewaltigen Knappheitskrisen in den 1840er Jahren verbunden. Also Die Ernte fiel 1846 aus. Ein Sommer war komplett verregnet. Am bekanntesten ist das Problem mit der Kartoffelernte in Irland gewesen, auch die Hungerepidemie nach 1846. Das hat Das hat zu einem Aufschwung der Globalisierung geführt, es führte gerade zur Öffnung der Welt in den 1850er Jahren. Das war die Reaktion auf diese Knappheit. In diesem Sinne bin ich da auf längere Sicht sehr zuversichtlich, dass es auf längere Sicht eine neue Welle der Globalisierung bringt und keinen Rückschlag.


Interview: Michael Hesse