Der Wahnsinn des Denkens

Die Folgen des Klimawandels

Die Lehren aus der Pest

Das Interview

Die Welt verändert sich immer schneller - Gespräche mit Denkern, Deutern und Visionären

Krieg in Sicht

Krieg in Sicht

Krieg in Sicht. Das war eine Schlagzeile am Ende des 19. Jahrhunderts. Es war eine Zeit, in der noch echte Großmachtpolitik betrieben wurde. Im Mittelpunkt des Ganzen stand damals das Deutsche Reich. Der damalige Reichskanzler Bismarck betrieb eine Politik der Isolierung der außenpolitischen Gegner. Immer sollten Verträge mit zwei Staaten auf Kosten eines dritten geschlossen werden. Die Rechnung ging in seiner Amtszeit auf. Und auch danach dauerte es noch fast ein Vierteljahrhundert, bis der nächste kriegerische Konflikt anstand. Die Zeit von 1871 bis 1914 war in der Geschichte Europas eine der friedlichsten. Als die Krieg in Sicht Schlagzeile erschien, eine List Bismarcks, um die Gegner einzuschüchtern, schreckte Europa zurück. Auch Bismarck verstand, dass Deutschland saturiert sei, dass es keine Gebietsansprüche erheben konnte. 

Auch heute ist wieder eine Zeit, in der es heißt: Krieg in Sicht. Dieses Mal geht es um die Ukraine. Russland droht unverholen mit einem Einmarsch. Es zieht einen Vergleich zum Völkermord von Srebrenica heran, womit man die militärische Intervention schon im Voraus rechtfertigen will. Die Situation ist gefährlich. Denn der russische Präsident Putin glaubt nicht, dass der Westen eingreifen wird, wenn ein Krieg um die Ukraine losbricht. Man werde die Ukraine eher fallenlassen, so die einhellige Meinung im Kreml. Egal, wie sich der Westen hierbei tatsächlich entscheiden wird, das Unheil ist unverkennbar, den die neue Lage im Osten mit sich bringt. Zögert der Westen, ist Russland eine stärkere Bedrohung für Europa denn je. Greift der Westen militärisch ein, besteht die Gefahr, dass aus einem regionalen ein internationaler Konflikt wird. Krieg in Sicht. Die alte Schlagzeile lässt einen heute aufs neuerliche schaudern.

  • Die USA bleiben auch Biden ein zerrissenes Land

    Der amerikanische Patient

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"Dem Land geht es schlecht"

Der Historiker Timothy Snyder wäre beinahe an einer Sepsis gestorben, weil die Ärzte ihn nur oberflächlich untersucht hatten

Professor Snyder, was hatten Sie für eine Krankheit? Wie geht es Ihnen?


Es geht mir besser, ganz gut. Ich hatte eine Blinddarmentzündung und in der Folge eine Leberentzündung. Das führte zu einer unerkannten Sepsis, also eine Blutvergiftung. Die Ärzte haben viele Fehler gemacht, die mich fast umgebracht haben. Mir geht es aber nicht um mich, sondern um die Frage, warum man im amerikanischen System an einer Blinddarm-Entzündung sterben kann. Es sollte an sich nicht möglich sein, ist aber leider ganz normal.


Was lässt sich über dieses System sagen? Was ist das zentrale Problem?


Es ist ein bisschen schwierig, das zu erklären. Es ist fast so, als würde man eine andere Sprache sprechen. Wenn man das Wort Gesundheitssystem ausspricht, hat man ein Bild im Kopf. In den USA gibt es kein System in diesem Sinne. Gesundheit ist für die Amerikaner so etwas wie Autos oder ins Kino zu gehen. Wenn man im Krankenhaus liegt, muss man sich ständig fragen, ob die Ärzte oder Krankenschwestern aus finanziellen Gründen so handeln oder ob es ihnen jetzt um die Gesundheit geht. Die Amerikaner haben das Problem, dass man den eigenen Körper nicht als ein Subjekt des Rechtes begreift, man denkt, dass es normal ist, wenn der Körper ein Profit-Objekt für andere ist. Wir haben ein falsches Verständnis von Freiheit, es ist beschränkt und negativ. Wir sehen nicht, dass unser Leiden unser früher Tod im Vergleich zu anderen Ländern, alles das ist eigentlich ein Problem der Freiheit.


Es ist ein medizinisch-industrieller Komplex, der dafür verantwortlich ist?


Das Problem ist ein systemisches Problem. Das ganze amerikanische System ist gewinnorientiert. Ich habe viele Erfahrungen mit Ärzten in Europa und den USA gemacht. Die Mediziner in Österreich konnten sich mehr Zeit für die Patienten nehmen als in den USA. Das heißt aber nicht, dass sie bessere Ärzte sind. Sie arbeiten lediglich in einem besseren System. Die amerikanischen  Ärzte müssen in einem sehr schlimmen System arbeiten. Sie haben meine Sympathie. In Amerika ist es so, dass der Patient denkt, der Arzt wäre in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Aber das ist leider selten der Fall. Der Arzt ist eher ein Opfer des Systems. Wenn man das System ändern könnte, die Ärzte mehr Freiheit hätten, wären wir alle freier und gesünder.


Welche Folgen hat das in der Pandemie?


Die Hälfte der Amerikaner hatte das Gefühl, dass sie es sich nicht leisten konnten, ins Krankenhaus zu gehen. Zudem gab es kaum die Möglichkeit, einen nationalen Notfallplan umzusetzen. Die Lehre ist, dass in Krisenzeiten ein rein kommerzielles System nicht funktioniert.


Was hat sich in der Gesellschaft und der Politik verändert? Sie kritisieren eine neue oligarchische Struktur in den USA.


Damit man das versteht, muss nur an Donald Trump und seine Infektion mit dem Coronavirus denken. Was machte Trump anschließend? Er sagt, er sei Superman. Das ist das Problem. Es gibt eine Schicht, eine sehr kleine, aber sehr mächtige und reiche Elite, die der Auffassung ist, dass sie kein Teil der Zivilgesellschaft ist. Von Platon bis Raymond Aaron weiß man: Wenn es mächtige reiche Leute gibt, die über so eine Macht verfügen, dass sie denken, sie würden nicht zu dem Land gehören, dann gibt es ein Problem. Ihnen kommt es gar nicht erst in den Sinn, dass es eine Notwendigkeit für ein Gesundheitssystem gibt. Wenn man soviel Geld wie sie hat, hat man in den USA Zugang zu guten Ärzten. Das zweite Problem ist der Rassismus. Jedesmal, wenn man den Versuch unternimmt, ein Gesundheitssystem zu errichten, kommt die Antwort von irgendeinem rechten Politiker: Wir können das nicht haben, weil es nur von Immigranten und Schwarzen ausgenutzt wird. Zu den weißen Amerikanern sagen sie dann: Ihr seid stark, ihr seid hart, ihr braucht so ein System gar nicht. Wegen dieser rassistischen Denkweise haben Reformer ein Problem.


Die Eliten haben mehr Ähnlichkeit zu Eliten anderer Länder, die größer ist als zu den amerikanischen Bürgern?


Die Griechen haben das Wort Oligarchie in ihrer Sprache gehabt, Aristoteles hat es in die Philosophie eingeführt. Seit den 90er Jahren wurde das Wort im Russischen verwendet, um die Situation in Russland, der Ukraine und leider immer mehr auch in den USA zu beschreiben. Eine gewisse Elite denkt, sie sei in der Lage, außerhalb der normalen Regeln zu leben.  Platon sprach von einem Staat der Reichen und einem Staat der Armen. Die gibt es leider. Das hat Auswirkungen auf jedem politischen Feld, besonders stark ist es jedoch beim Thema Gesundheit. Hier muss man einfach zusammenarbeiten. Leider ist es schwer, hierüber in den USA eine Debatte zu führen.


Führt das zu einer Gefährdung in den USA?


Die amerikanische Denkweise sagt, Freiheit ist Freiheit von etwas. Sie wird als ein negativer Begriff aufgefasst, in dem sie von etwas befreit, was irgendwie im Weg ist. Aber gerade wegen der Abwesenheit eines Gesundheitssystems und eines Wohlfahrtstaates gibt es zuviel Angst im System. Die Menschen werden aber wegen ihrer Angst zu einem Spielball im politischen System. Das treibt uns weg von der Demokratie und hin zur Autokratie. Gerade Trumps Politik besteht darin, die Menschen in dieser Hinsicht zu manipulieren. Er weiß, dass es für ihn besser ist, wenn die Menschen Angst haben. Ich bin sicher, dass die Demokratie besser funktionieren würde, wenn die Menschen die Angst nicht hätten.


Auch die Pandemie sehen Sie als Bedrohung der Demokratie an?


Das gilt nicht nur für die USA, sondern für jedes Land. In den USA gibt es einen Präsidenten, der seine eigene Krankheit benutzt, um zu sagen, dass er  ein starker Mann ist. Die Pandemie wurde benutzt, um Emotionen zu wecken. Die Pandemie ist ein systemisches Problem. Sogar unsere Wahl ist in Gefahr. Ich glaube allerdings nicht, dass er an der Macht bleibt und die Wahl gewinnt. Aber er schürt diese Emotionen, weil er glaubt, dass es ihn an der Macht halten würde.


Wird er das Weiße Haus verlassen bei einer Niederlage?


Die primäre Frage ist, was man nach Trump in Angriff nimmt. Trump ist kein Demokrat.  Er mag Demokratien nicht. Er hat immer gesagt, er akzeptiere nur eine Wahl, wenn er gewinnt. Wir wissen von vorneherein, dass er seine Niederlage nicht akzeptieren wird. Bei allem, was er sagt, geht es ihm nur darum, Chaos zu stiften. Er hofft, dass er aus dem Chaos als Präsident hervorgeht.  Biden geht davon aus, dass seine Mission darin besteht, die Wahl zu gewinnen.


Ist Biden der richtige Mann für eine Veränderung.


Ist Biden der richtige Mann für eine Veränderung. Er ist nicht radikal, aber es gibt Hoffnung. Biden kann anderen zuhören, die etwas Wichtiges zu sagen haben. Darauf wird er sich einlassen. Man kann jetzt nicht zurück gehen.  Es gibt kein Zurück ins Jahr 2016. Man hat gesehen, dass Trump nicht das einzige Problem ist. Die Probleme muss man angehen. Biden wird gute Leute haben, die gute Entscheidungen treffen können.


USA sind sehr gespalten. Was kommt nach der Wahl? Ein Bürgerkrieg?


Ein Bürgerkrieg? Im November und Dezember, vielleicht. Trump bettelt durch seine Aussagen ja förmlich um Gewalt. Aber man sucht in der amerikanischen Geschichte ja krampfhaft nach einem Moment, in dem die Menschen nicht gespalten wurden. Ich bin optimistisch, wenn man bestimmte Bedingungen schafft. Wenn man ein weniger gespaltenes Amerika haben will, muss man an die Grundlagen gehen, und dazu zählt das Gesundheitssystem. Es wird nicht gehen, dass man nicht polarisieren wird. Aber es gibt doch klare Mehrheiten für eine Reform des Gesundheitssystems. Die öffentliche Meinung in den USA unterscheidet sich da nicht so sehr von der in Deutschland. Wir haben die Chance, das System zu ändern. Dann nimmt auch die Polarisierung ab.


Wenn sie Europa mit den USA vergleichen, sollten die Europäer zufriedener sein mit dem, was sie haben?


Ich habe das Buch für die Amerikaner geschrieben. Ich wollte den Amerikanern zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Das amerikanische Problem ist, dass sie alles zuerst machen wollen und nichts von außen übernehmen möchten. Als Deutscher, Österreicher, Schweizer oder Europäer kann man das Buch als Warnung nehmen. Es ist sehr leicht, ein gutes System zu vernichten. Wenn man Effizienz als einen Wert an sich betrachtet, hat man das amerikanische System. Effizienz ist jedoch gar kein Wert. Gesundheit, Freiheit, das sind Werte! Wenn man über Effizienz redet, dann redet über Geld. Und das ist unser Problem in den USA. Das Gesundheitssystem steht dem Geld näher als der Gesundheit. Den Europäern wünsche ich das nicht.


 Viele demonstrieren in Deutschland und anderen Ländern, die glauben, dass die Pandemie eine Erfindung ist.


Ich will gar nicht sagen, dass die Amerikaner immer unrecht haben, die Europa aber immer richtig liegen. Die Argumentation in Deutschland ist identisch mit der in den USA. Man sagt die gleichen Dinge. Das Problem ist das Internet, die Verschwörungstheorien sind immer die gleichen, ob in Kansas oder in Bayern. Das Grundproblem ist, wie man den Glauben an Fakten erweitert. Das Problem in Deutschland ist genauso wie in den USA. Es gibt allerdings weniger Menschen in Deutschland, die das glauben, als in den USA. Man muss die Fakten der Wissenschaften als Werte betrachten, um eine Demokratie zu haben. Wenn man das nicht tut, wird Freiheit auf Emotionen reduziert. Ich habe das Gefühl, in einer Diktatur zu leben. Ich habe das und das gehört. Freiheit gibt es nicht, wenn man nur nach eigenen Emotionen handelt. Dann ist man das Opfer der eigenen Illusionen. Man braucht Fakten und Diskussionen, um frei zu sein.


Interview: Michael Hesse



Zur Person: Timothy Snyder lehrt Geschichte an der Princeton-University. Sein neues Buch trägt den Titel: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. Aus dem Englischen von Ulla Höber und Werner Roller. C. H. Beck Verlag, München 2018. 376 Seiten, 24,95 Euro.

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"Warum regen wir uns auf?"

Adam Tooze befürchtet den nächsten Crash der Weltwirtschaft

Professor Tooze, wird diese Wirtschaftskrise, die wir durch die Pandemie erleben, noch zum Desaster werden?

Hängt ganz davon ab, wo man gerade lebt. Im April befürchtete man ja in Europa bis in die Chefetagen hinein, dass es zu einer politischen und ökonomischen Katastrophe kommen könnte. Die gesundheitspolitische Lage war schwierig, Europa zutiefst zerstritten. Die Lage drehte sich im Sommer zum Besseren. Es ist natürlich noch offen, ob der EU-Gipfel immer Sommer die drängendsten Probleme gelöst hat, zumindest war er ein positiver Schritt.

Und wie ist es in den USA?

Das ist der Gegenpart dazu. Gut möglich, dass die sich kumulierenden Krisen hier in den USA sich bis zum Ende des Jahres zu einer profunden Staatskrise auswachsen werden. Die Pandemie ist dafür nicht die alleinige Ursache, doch Covid-19 ist ein Schock, der alles andere potenziert und multipliziert und den Brennstoff für eine zunehmend brenzliger werdende Lage in Amerika herbeiführt. Es ist nicht abzusehen, wie es sich nach dem 3. November entwickeln wird. Je näher der Wahltag kommt desto angespannter ist die Stimmung. Ein Stützungspaket für die Wirtschaft steht noch aus.

Im April herrschte reine Panik, warum haben sich die ökonomischen Horrorszenarien nicht erfüllt?

Es wurden alle wirtschaftspolitischen Mittel eingesetzt. Fiskal- und geldpolitische Maßnahmen in riesigem Ausmaß. Möglich wurde dies zweifellos durch die Bereitschaft der Zentralbanken, wie schon 2008, die Finanzmärkte zu stützen. Dass damit nicht alle ökonomischen Frage gelöst werden können, liegt auf der Hand. Trotzdem ist diese Politik der Zentralbanken entscheidend, zumindest aber ausreichend, um diese Gefahr eines schweren Infarkts der Wirtschaft abzuwehren.

In Ihrem Buch „Crashed" betonten Sie die wichtige Rolle der USA, die die Welt nach dem Finanzcrash 2008 aus dem Sumpf herausgezogen hat. Was ist zu erwarten, wenn Amerika nun als Rettungsakteur ausfällt?

Das Fed hat wie schon 2008 die Führung übernommen und sichergestellt, dass es im privaten Finanzmarktsystem nicht an Dollars gefehlt hat. Im Februar und März stieg der Dollar im Kurs extrem an, vor allem die Schwellenländer standen da unter einem extremen Finanzdruck. Und auch die Versorgung der europäischen Finanzinstitute mit Dollars wurde im März eng. In März erlebten wir selbst im Markt für amerikanische Staatspapiere gefährliche Turbulenzen. Diese Probleme wurden durch das Fed gelöst. Eine heftige Krise ist nun nach der Finanzkrise 2008, der Eurokrise von 2010 nun zum dritten Mal durch das Fed gelöst worden. Dieser Teil des amerikanischen Staatsapparates funktioniert bisher ohne störende Eingriffe vonseiten der Politik, und das trotz der ungeheuer gespaltenen Parteipolitik Amerikas.

Das könnte sich ja im Wahlkampf noch ändern.

Trump scheut vor nichts zurück. 2016 hat Trump im Wahlkampf die Feb zum Objekt seiner Polemik gemacht. Zuletzt im März hat er gegen Jerome Powell und die „Schwachköpfe" in der Fed gewettert. Derzeit ist er zufrieden mit der Politik des Fed. Eher dürften sich einige in der US-Zentralbank den Kopf kratzen und die Zwickmühlen verfluchen die sie dazu zwingt angesichts der nationalen Notlage mit ihrer generösen Geldpolitik Trumps Wahlchancen zu befördern.

Wie massiv ist dann die Krise in den USA? Der Historiker Fritz Stern hielt vor zehn Jahren schon einen Bürgerkrieg in den USA für möglich.

Angesichts der zunehmenden Gewalttätigen in Amerika, angesichts der auf den Straßen offen zur Schau getragenen Waffen der Rechten, der offenen Zusammenarbeit zwischen Polizei und weißen Militanten, kann man das nicht so ohne Weiteres ausschließen. Die Bedingungen für einen kalten Bürgerkrieg existieren bereits seit Jahrzehnten. Sie gehen auf die Ära der Bürgerrechtsbewegung zurück. Parteipolitisch ist die Polarisierung seit der Ära Clinton extrem. Die Gräben sind derart tief, dass heute die Chancen, dass ein Weißer und eine Schwarze heiraten höher sind, als dass ein Wähler der Republikaner einen demokratischen Wähler heiraten würde. Das ist ein Indiz für die Tiefe der Krise. Es gibt keinen gesellschaftlichen Umgang mehr für die beiden Teile Amerikas.

In Wirtschaftskrisen werden US-Präsidenten in der Regel nicht wiedergewählt. Wie könnte es diesmal ausgehen?

Sie haben recht. Aber die Polarisierung geht mittlerweile soweit, dass selbst in der Einschätzungen der Wirtschaftslage die Meinungen weit auseinandergehen und zwar auch bei Menschen die selbst Arbeitslos sind. Wenn man Bürger nach der wirtschaftlichen Lage fragt, muss man die Zusatzfrage stellen, welche politische Partei sie wählen. Es ist eine Realitätsspaltung, die vermuten lässt, dass die gewohnten Korrelationen zwischen Beschäftigungszahlen, Bruttosozialprodukt und Wahlausgang nicht mehr in der gleichen Weise tragfähig sein werden.


Trump wird viel kritisiert, doch selbst einige seiner Kritiker meinen, dass seine Wirtschaftspolitik besser als ihr Ruf gewesen sei.

Worüber man sich einig sein kann, hier stimmen auch einige aus dem linken Lager zu, ist, dass Trump und mit ihm der Kongress bewiesen hat, dass man mit einer außergewöhnlich massiven defizitorientierten makroökonomischen Politik tatsächlich die US-Wirtschaft anheizen kann. Und wenn man das macht, schafft man eine Vollbeschäftigung. Das hatte vor allem für die diskriminierten Minderheiten in den USA eine positive Wirkung. Vor allem die schwarzen Männer finden zuallerletzt Beschäftigung. Wenn man die Wirtschaft heißlaufen lässt, profitieren sie davon, wenngleich nicht in gleichem Maße wie andere. Die Republikaner haben bewiesen, dass man die Wirtschaft heißlaufen lassen kann, ohne dass es zu einem inflationären Kollaps kommt. Daraus sollten auch die Demokraten ihre Schlüsse ziehen. Man ist in der Vergangenheit gerade unter Bill Clinton und Barack Obama viel zu zaghaft in der Verfolgung der Vollbeschäftigung gewesen. Man darf aber nicht vergessen, dass die Republikaner zugleich eine knallharte Umverteilungspolitik von unten nach oben betrieben haben. Sie haben die Ungleichheit angeheizt, obwohl es durch die Wirtschaftspolitik kompensierende Effekte gibt.

Die Europäer warten auf einen Wechsel im Weißen Haus. Machen sich die Europäer da etwas vor, wenn sie glauben, dass die USA ohne Trump vollkommen anders agieren?

Der 3. November wird für Europa ein entscheidendes Datum sein. Eine Regierung unter Joe Biden wird nicht ein solch unmöglicher Partner sein wie die Trump-Regierung es ist. Auch sie werden amerikanische Interessen verfolgen, aber nicht in der wirklich zum Teil absurden Form wie es unter Trump betrieben worden ist. Sicherlich werden auch die Demokraten eine harte Linie gegenüber China fahren, aber das ist bei den Europäern nicht anders. Was eine Biden-Regierung stärker versuchen werden ist das, was man auch Trump geraten hätte, es nämlich mit den Europäern gemeinsam zu machen. Aber es wird auch nach Trump ausstehende Fragen geben in Sachen Handelspolitik, Datenschutz, Klimapolitik.

Welche Lehren sollte Europa aus der Trump-Zeit ziehen?

Europa muss sich auch gefallen lassen, und das ist durchaus peinlich, dass Amerikas Unzufriedenheit und Klagen gegenüber Europa erst da ernst genommen wurde, als Trump in seiner typischen Art gedroht hat, ernst zu machen. Gegenüber Trump war man bereit, Konzessionen zu machen, die man Obama nicht eingeräumt hätte. Das sollte Europa eigentlich peinlich sein.

In Ihrem Buch „Crashed" haben Sie bereits davon gesprochen, dass die massive Globalisierung zunächst an ihr Ende gekommen ist. Wird die Pandemie eine De-Globalisierung einleiten?

Eine Entkopplung der USA von Europa in Sachen Finanzwirtschaft fand nach 2008 statt. Was sich heute andeutet ist eine selektive Entkopplung in Bezug auf China. Es ist unklar, wie lange Bejing bereit sein wird, die Schläge einzustecken. Man vermutet, dass China auf den 3. November wartet und erst nächstes Jahr Entscheidungen wird. Auch ohne die Wendung gegen China in den USA war auf Grund des Lohngefälles abzusehen dass China zunehmend durch Niedriglohnländer wie Vietnam und Bangladesch als Produktionsstandort abgelöst wird. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, die nicht ein Ende der Globalisierung bedeuten, sondern eine neu organisierte Globalisierung.

Auch ohne China leben über drei Milliarden Menschen in Asien. Sehen Sie als Historiker eine massive Wohlstandsverschiebung Richtung Asien, die durch die Pandemie noch beschleunigt wird.

Sie wird eher bestätigt. Es ist kein Geheimnis, dass diese Gewichtsverschiebung stattfindet. Es entspricht auch den Tatsachen der globalen Demographie. Es ist nur ein Zurechtrücken, ein Zurückpendeln in dem Sinne, dass sich die ökonomischen Verhältnisse der Gewichtsverteilung der Menschen anpassen – und das seit drei Jahrzehnten. Und dabei ist China führend. Man darf nicht vernachlässigen, dass andere Länder in Asien wie etwa Indien auf vielen Feldern bestimmend sein werden, was auch für die Klimapolitik gilt als auch der Entwicklung von Technik oder von großen Märkten. Wir leben nicht mehr in einer G-7 oder G-20-Welt, sondern in einer G-30-Welt, in der große Staaten wie Malaysia oder im afrikanischen Bereich Nigeria oder Äthiopien, Riesenstaaten mit mehr Bevölkerung als die größten europäischen Staaten, für das nächste halbe Jahrhundert und die globalen Probleme eine erhebliche Rolle spielen. Als Historiker ist man mit einer Entwicklung konfrontiert, die eigentlich viel schneller hätte kommen müssen. Die Frage ist nicht, ob das stattfindet, sondern warum es so lange gedauert hat.

Wir erleben eine Neuordnung der Welt. Wo findet sich da Europa wieder?

Ich schwanke zwischen Frustration und Bewunderung. Es ist beklagenswert wie gering das Gewicht der europäischen Politik in entscheidenden globalen Fragen ist, eben wegen der mangelnden Geschlossenheit Europas. Andererseits denke ich: Warum regen wir uns darüber auf? Europas Position ist im Grunde beneidenswert in vielerlei Hinsicht.

Bringt die Pandemie zugleich das Ende des Neoliberalismus, wie einige sagen?

Ob es ein Bruch mit dem Neoliberalismus ist, hängt davon ab, was man unter dem Neoliberalismus versteht. Wenn man unter ihm ein zig verstehen würde, dass Staatsausgaben reduziert werden, dann wäre diese Krise für den Neoliberalismus das Aus. Der real existierende Neoliberalismus beinhaltet seit den 70er Jahren jedoch die Kombination aus Deregulierung und zugleich eine massive Eingriffsfähigkeit des Staates, wenn es zu Krisen kam. Man muss sich zunächst sehr grundsätzlich fragen, was dieser Neoliberalismus für eine Gesellschaftsform ist, welche Interessengruppen er stützt. Denn was wir in dieser Krise nicht gesehen haben, ist eine Herausforderung dieser Interessensgruppen, denen der Neoliberalismus dient. Im Grunde haben wir eine massiv interventionistische aber zutiefst konservative Politik. Man stellt das Staatsbudget zur Verfügung, um die bestehende Struktur des Besitzes und Machtzentren in der Wirtschaft zu schützen. Die Eingriffe selbst stellen für mich keinen fundamentalen Bruch dar, sondern eine Kontinuität mit der Politik seit 2008. Es gibt jedoch eine Entzauberung, eine Desillusionierung, der Schleier ist Weg, indem gesehen hat, wie der Neoliberalismus tatsächlich funktioniert. Die unverfrorene Behauptung, dass der Neoliberalismus ohne Staat funktionieren kann, lässt sich nicht weiter behaupten.

Interview:
Michael Hesse


Zur Person:

J. Adam Tooze, Jg. 1967, ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Er wurde auch in Deutschland mit Büchern wie „Die Ökonomie der Zerstörung“ (2007) oder „Sintflut“ (2015) bekannt.

Zuletzt erschien sein Buch „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“ im Siedler Verlag (800 S., 38 Euro)